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Impuls zum 1. November 2021

Zu Allerheiligen

Von Jost Eschenburg (pax christi Augsburg)

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist (Lk 6,36)
27 Euch aber, die ihr zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen! 
28 Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen! 
29 Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin und dem, der dir den Mantel
wegnimmt, lass auch das Hemd! 
30 Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand das Deine wegnimmt, verlang es nicht zurück!
31 Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen! 
32 Wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Denn auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. 
33 Und wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Das tun
auch die Sünder. 
34 Und wenn ihr denen Geld leiht, von denen ihr es zurückzubekommen hofft, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder leihen Sündern, um das Gleiche zurückzubekommen. 
35 Doch ihr sollt eure Feinde lieben und Gutes tun und leihen, wo ihr nichts zurückerhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. 
36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! 
37 Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden! Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden! Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden! 38 Gebt, dann wird auch euch gegeben werden! Ein gutes, volles, gehäuftes, ¨überfließendes Maß
wird man euch in den Schoß legen; denn nach dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden.

Tsunamis
Liebe Freundinnen und Freunde! Es geschah an einem 1. November, Allerheiligen. Die ganze Stadt war in Feststimmung, als gegen halb 10 am Vormittag die Erde bebte. Spalten rissen auf, in einem Moment fielen Hauser, Kirchen, Klöster und Paläste zusammen, Feuersbrünste brachen aus. Die Menschen liefen schreiend auf die Straße, raus aus den zusammenstürzenden Gebäuden, fort von den Bränden, hinunter zum Fluss. Doch Minuten später raste ein gewaltiger Tsunami vom Meer den Fluss aufwärts und verschlang alles, was sich dorthin zu retten versucht hatte. Hunderttausend Menschen starben unter den Trümmern, in den Flammen, in den Fluten. Die große und prächtige Stadt Lissabon gab es nicht mehr. Man schrieb das Jahr 1755.

Wir brauchen nicht so weit zurückgehen, um ähnliche Ereignisse zu erinnern: den Tsunami am 2. Weihnachtstag 2004 oder Fukushima 2011 oder auch die jüngste Flutkatastrophe bei uns. Das Besondere am Erdbeben von 1755 war, dass es auch einen Tsunami im europäischen Denken auslöste, dessen Wirkungen bis heute anhalten. Wie konnte der Allmächtige zulassen, dass eine Naturkatastrophe die Menschen, Häuser und Kirchen dieser wundervollen, christlichen Stadt vernichtete? Voltaire schrieb in seinem Poeme sur le d´esastre de Lisbonne (1756):

Wie einen Gott sich denken, der, die Gute selbst, für die geliebten Kinder von guten Gaben überfließt und doch mit vollen Händen die Übel auf sie gießt?

Dem hier angesprochenen Widerspruch zugrunde liegt allerdings eine Vorstellung von Theologie, wonach Gott in dieser Welt sichtbar die Guten belohnt und die Bösen bestraft und im Umkehrschluss auf den Erfolgreichen Gottes Segen ruht und die Gescheiterten seine Strafe erleiden. 

Jesus selbst musste sich mit dieser Vorstellung auseinandersetzen: „Oder meint ihr, dass die achtzehn, auf die der Turm von Siloah fiel und erschlug sie, schuldiger gewesen seien als alle andern Menschen, die in Jerusalem wohnen?” (Lk. 13,4). Der Jesuit Friedrich von Spee, der um 1630 gegen die Hexenprozesse kämpfte, musste die Behauptung von Theologen widerlegen, es würde niemand unschuldig verurteilt, da Gott die Seinen nicht im Stich lasse. Von dieser Ansicht ist es nicht mehr weit zur Vereinnahmung Gottes für nationalistische Kriegsziele, wie bei dem Theologen Reinhold Seeberg, der Ende 1915 schreiben konnte: „Unsere Opfer waren nicht umsonst, der große Bundesgenosse oben war mit uns.”

Unsere Bibelstelle enthalt in gewissem Sinn die biblische Antwort auf diese Fragen: Der ganz auf sich und sein mögliches oder reales Leid bezogene Blick der Menschen („die ihr zuhört”) wird aufgerichtet, nach vorne zum Mitmenschen und nach oben zu Gott. Es ist der zentrale Teil von Lukas Version der Bergpredigt, hier eher eine Feldpredigt. Die Verse 27-31 enthalten die Kurzform des „Ich aber sage euch” bei Matthäus. Sie gipfeln in der Goldenen Regel, der Ethik der Erkenntnis, dass die Anderen von ähnlichen Bedürfnissen, Ängsten und Widersprüchen getrieben sind wie wir selbst: „Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen!” (Vs. 31.) Dieser Regel wird in den Versen 32-34 die “gewöhnliche” Ethik entgegengesetzt, bei der die Reihenfolge umgekehrt ist: Wie du mir, so ich dir. “Welchen Dank erwartet ihr dafür?”

In Vers 35 wird die Zumutung noch einmal präzisiert: “Eure Feinde lieben und Gutes tun und leihen, wo ihr nichts zurückerhoffen könnt.” Warum sollten wir das tun? Die Zumutung geht einher mit dem Zuspruch: “Ihr werdet Kinder des Höchsten sein”. ¨ über Ihn, den Höchsten, hören wir Erstaunliches: Er ist gütig – gegen wen? “Gegen die Undankbaren und Bösen”!

Der folgende Vers 36 fasst zusammen: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!” (der “Allerbarmer” der Muslime). Das gleichsetzende “wie” ist uns aus dem Vaterunser vertraut: “wie auch wir vergeben unsern Schuldnern”. Wie Barmherzigkeit wirkt, wird in den folgenden Versen ausgeführt: Richtet nicht, verurteilt nicht, erlasst die Schuld, gebt – dann wird euch gegeben, die Schuld erlassen, ihr werdet nicht verurteilt, nicht gerichtet. Man könnte auch sagen: Dann wird die Angst vor der Verurteilung, vor der Schuld, vor der Not von euch weichen.

Unser Leben, so schön es sein mag, bietet eins nicht: Sicherheit vor allen nur denkbaren Katastrophen. Im Gegenteil, sicher ist uns allen nur unser Tod. Daher kann die Angst unser ständiger Begleiter werden. Selbst wenn es uns heute gut geht, was wird morgen sein? Deshalb rüsten wir uns, als Individuen und als Gesellschaft, doch unsere Angst wird dadurch nicht geringer. Wer weiß, was uns noch alles bevorsteht, und unsere Gegner rüsten doch auch, womöglich besser, effektiver! Die USA geben zwar zehnmal so viel Geld für Rüstung aus wie Russland und dreimal so viel wie China, aber sicherer fühlen sie sich dadurch noch lange nicht.

Angst ist ein starkes Gefühl; nur ein gleich starkes Gefühl kann etwas Wirksames dagegensetzen. Barmherzigkeit, Compassion, Empathie, das Mitfühlen mit dem Mitmenschen, dem Mitgeschöpf ist ein solches Gefühl, und die Möglichkeit, den Anderen und unser Verhältnis zu ihm durch mitfühlendes Reden und Handeln zu verändern gibt uns Stärke und immunisiert uns gegen die Angst. Eine von vielen, die das leben, ist die Palästinenserin und Augsburger Friedenspreisträgerin Sumaya Farhat-Nasser, die seit vielen Jahren in einer Situation der Unterdrückung so ihre Würde bewahrt und für den Frieden arbeitet.

 

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