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Impuls zum 3. Oktober 2021

Zum 27. Sonntag im Jahreskreis

Von Klaus Hagedorn (Oldenburg), pax christi Diözesanverband Münster

Erntedank 2021 – Nicht alles, was wir haben, sind „gute Gaben“ und kommen „von Gott“

Vorneweg
Erntedank wird bei uns an diesem Sonntag, 3. Oktober 2021, begangen. „Alle guten Gaben, alles was wir haben, kommt, o Gott, von dir. Dank sei dir dafür.“ Diese Worte lese ich in dem Schaukasten einer Oldenburger Kirche; sie sind eingebaut in eine Fotomontage zum Erntedank 2021 mit Abbildungen von Obst, Gemüse, Sonnenblumen, Brot, Wurst und Schinken. Ich gestehe, ich kann bei diesem Satz nicht „mitgehen“, ihn nicht betend mitsprechen, wenn nicht gleichzeitig miterinnert und mitbedacht wird, was denn die Produktionswege, die sog. Lieferketten dieser Waren sind. Der Blick darauf, z.B. auf „Wurst und Schinken“, legt schlaglichtartig offen, dass vieles in dieser Lieferkette eben nicht „von Gott kommt“, dass es oftmals keine „guten Gaben“ sind, weil sie unter menschenunwürdigen, ja menschenverachtenden Arbeitsbedingungen produziert werden. Es braucht also auch die Bitte um offene Sinne, sich zu empören, um Mut, aufzustehen und zu widerstehen, solche Lieferketten zu verändern, um Kraft, nicht zu resignieren und zu privatisieren.

Am vergangenen Samstag, 25. September, wurde vom pax christi-Diözesanverband Münster zum sechsten Mal der Johannes XXIII.-Preis verliehen. Gewürdigt wurde ein entschiedenes Engagement gegen organisierte Verantwortungslosigkeit. Gewürdigt wurde das Engagement des Vereins „AKTION Würde und Gerechtigkeit“ in Lengerich. Die AKTION engagiert sich insbesondere für Menschen in der Fleischindustrie, deren Arbeitskraft unter prekären, menschenunwürdigen Bedingungen und zu niedrigem Lohn ausgenutzt wird. Sie deckt auf und versucht zu stoppen, wie Arbeitsmigrant*innen aus Osteuropa ausgebeutet werden, wie sie wie Wegwerfmenschen behandelt werden: ein ausgefeiltes Sklavensystem in unseren Tagen und unter uns – viele Jahre hingenommen, im Dunkel bleibend, weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit. Daran will ich an „Erntedank“ erinnern. Auch das ist fromm, auch wenn ich damit anstößig sein sollte. Solchen ungerechten und lebensbehindernden Strukturen mit Schweigen oder mit Nachsicht zu begegnen, heißt, deren Stoßrichtungen und deren „Waffen“ zu segnen. Das ist vom Evangelium nicht aufgegeben, kein Auftrag. 

Und ich erinnere auch aus einem weiteren Grund: Auf den Tag genau vor einem Jahr, am 3.10.2020, veröffentlichte Papst Franziskus die Enzyklika „Fratelli tutti“, mit der er erinnerte und aufrief zu Geschwisterlichkeit und sozialer Freundschaft. 

„Wurst und Schinken“ und moderne Sklaverei-Strukturen 
Seit den Corona-Hotspots vor einem Jahr in der Fleischindustrie wurden die modernen Formen von Sklaverei unter uns endlich öffentlich wahrgenommen. Auch der AKTION Würde und Gerechtigkeit in Lengerich kommt der Verdienst zu, hier aufgedeckt, verfolgt, angeprangert und öffentlich gemacht zu haben. Stichworte sind Lohn- und Sozialdumping: dass Menschen aus Osteuropa angemietet, verschlissen und danach entsorgt, d.i. entlassen und beliebig ausgetauscht werden; dass sie ausgebeutet werden in sog. Zwölf-Stunden-Schichten mit unbezahlten Überstunden; durch absurd hohe Vertragsstrafen bei vorzeitiger Kündigung; durch Sechs- bis Sieben-Tage-Wochen und durch Bezahlung unter dem Mindestlohn; durch fristlose Kündigung von Arbeiterinnen bei Schwangerschaften; dadurch, dass Krankenversicherungsschutz oftmals nicht gewährleistet ist; dass sie meist unauffällig und unter sich in oft haltlosen Wohnverhältnissen leben müssen mit horrend hohen Mieten für ein Bett im Mehrbett- bzw. Sechsbettzimmer – Umstände, die Teilhabe und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nahezu unmöglich machen. (vgl. z.B. DIE ZEIT vom 17.12.2020, S. 27: Ungewollte Einblicke – Vor Gericht kommt nun zur Sprache, wie es in der Schattenwelt zugeht). Sie werden behandelt als Ware, und es scheint keine Rolle zu spielen, was das mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit macht, dass sie schwere körperliche und psychische Schäden nehmen, dass sie letztlich als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt werden.

Das alles ist de facto organisierte Verantwortungslosigkeit, Willkürherrschaft über Menschen, moderne Sklavenhaltung, „organisierte Kriminalität“. Dahinter ist gestanden eine Subunternehmer-Struktur. Durch sie wurde beginnend ab der 1990er Jahre seitens der Fleischindustrie die Personalverantwortung immer weiter ausgelagert und die Stammbelegschaft weitestgehend ausgewechselt mit osteuropäischen Arbeitsmigrant*innen. Diese im Rechtsstaat Deutschland aufgebaute Struktur ist oftmals in enger Verflechtung mit den sog. hiesigen „Fleischbaronen“ gestanden. Beschäftigte sind auf Verschleiß gebucht – werden ausgetauscht, wenn sie nicht mehr können. „Wegwerf-Menschen-Mentalität“ wird das in der AKTION Würde und Gerechtigkeit genannt. 

Kurz und pointiert gesagt: Wir sehen also vor unserer Haustür, wie Kapitalismus funktioniert, dessen Produkte uns dienlich sind und dem wir uns andienen: Kosten werden externalisiert, von den Fleischfirmen an Subunternehmer delegiert, Personalverantwortung wird abgegeben, Menschen werden wie Waren behandelt und abgeschrieben. Die schäbige Seite des Kapitalismus, der Menschen ausnutzen und auspressen kann, wird vor unserer eigenen Haustür sichtbar und wirksam, wo er schon lange sein Unwesen treibt. Diese Seite, von der wir profitieren durch billige Fleischpreise, kommt uns unangenehm nahe. Wir als deutsche Gesellschaft bedienen uns des West-Ost-Einkommensgefälles in Europa und nutzen es zu unserem wirtschaftlichen Vorteil aus. 

Dass Menschen gleich gewürdigt werden und gleichberechtigt sind, dafür steht die jüdisch-christliche Tradition. Dass gerade die Schwachen und die „letzten Menschen“ unantastbar sind in ihrer Würde, das steht in unserer Ur-Kunde. Dass aus Fremden Freunde werden, das ist der Anstoß Jesu. In Sachen Menschenwürde und Menschenrechte darf es keine Grenzen geben. Da ist unsere Verantwortung für das Ganze gefragt. 

Die Lesung vom Tag: Genesis 2,18-24
Dann sagte Adonai, also Gott: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Ich will für ihn eine Hilfe machen, so etwas wie ein Gegenüber.“ Da bildete Adonai, also Gott, aus Ackererde alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und brachte sie zum Menschen, um zu beobachten, wie er sie nennen würde. Ganz so wie der Mensch – das atmende Leben – sie nennen würde, so sollte ihr Name sein. Da gab der Mensch allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes Namen. Aber für das Menschenwesen fand sich keine Hilfe, die so etwas wie ein Gegenüber wäre. Da ließ Adonai, also Gott, einen Tiefschlaf auf das Menschenwesen fallen, dass es einschlief, nahm eine von seinen Seiten und verschloss die Stelle mit Fleisch. Dann formte Adonai, also Gott, die Seite, die sie dem Menschenwesen entnommen hatte, zu einer Frau und brachte sie zu Adam, dem Rest des Menschenwesens. Da sagte der Mensch als Mann: „Dieses Mal ist es Knochen von meinen Knochen und Fleisch von meinem Fleisch! Die soll Ischscha, Frau, genannt werden, denn vom Isch, vom Mann, wurde sie genommen. Deshalb wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und sich mit seiner Frau verbinden. Sie werden ein Fleisch sein. (Aus: Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2007, 33f)

Ein Stammelternpaar – die Geschwisterlichkeit aller Menschen 
Dieser Auszug aus dem Zweiten Schöpfungsbericht ist vielschichtig. Ein für mich wichtiger Aspekt ist für heute der Gedanke, dass Gott die Menschheit aus einem Menschenpaar hat hervorgehen lassen. Dem biblischen Autor geht es dabei nicht um ein biologisches Erklärungsmodell. Er will hinweisen auf das Verhältnis von Gott zu den Menschen und auf das Verhältnis der Menschen untereinander. Wer an Adonai, den einen Gott, glaubt, setzt darauf, dass alle Menschen, gleich welcher Volkszugehörigkeit, Hautfarbe, Nation, Religion, Sprache Schwestern und Brüder sind. Wer an den einen Gott glaubt, kann den Ursprung der Menschheit auch nur auf eine Wurzel zurückführen. Die Menschheit ist zu verstehen als eine Völker-Familie. Bande des Blutes, der Volkszugehörigkeit, der Nation sind relativiert und mehr als zweitrangig. An diesen Gedanken knüpft auch Fratelli tutti an.

Fratelli tutti:  ein Aufruf, die Würde jedes Menschen anzuerkennen
Die Enzyklika wurde geschrieben, um daran zu erinnern, „dass Gott alle Menschen mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und gleicher Würde geschaffen hat und… sie dazu berufen hat, als Brüder und Schwestern miteinander zusammenzuleben“. (vgl. Fratelli tutti 5)

Im Kapitel 1 bezieht sich Franziskus auf Franz von Assisi: „Von seinen Ratschlägen (für eine dem Evangelium gemäße Lebensweise) möchte ich den einen herausgreifen, mit dem er zu einer Liebe einlädt, die alle politischen und räumlichen Grenzen übersteigt. Er nennt hier den Menschen selig, der den anderen, ‘auch wenn er weit von ihm entfernt ist, genauso liebt und achtet, wie wenn er mit ihm zusammen wäre‘. Mit diesen wenigen Worten erklärt er das Wesentliche einer freundschaftlichen Offenheit, die es erlaubt, jeden Menschen jenseits des eigenen Umfeldes und jenseits des Ortes in der Welt, wo er geboren ist und wo er wohnt, anzuerkennen, wertzuschätzen und zu lieben.“ (Fratelli tutti 1)

Wider die Resignation - Psalm 27: Der Herr ist mein Licht und mein Heil 
Ich brauche „Zuversicht“ – in vielem, trotz vielem und vielem zum Trotz. Vieles im Leben, was ich sehe, von dem ich höre, was ich erlebe, geht einfach nicht gut aus, bringt an Grenzen, übersteigt Kraft und Vermögen. Zuversicht ist zu meinem wichtigsten Wort geworden: Damit meine ich nicht Optimismus mit einem falschen Lächeln und dem positiven Denken. Ich meine jene Haltung, die weiß, dass die Welt in Krisen ist und wir als Menschen sterblich – und die trotzdem darauf baut, dass Gott die Welt und mich und alle Menschen nicht zugrunde gehen lässt. Der Psalm 27 in den Worten von Diethard Zils OP begleitet mich seit Jahren.

Der Herr ist Aussicht in aller Aussichtslosigkeit; 
warum soll ich resignieren? 
Der Herr ist langer Atem in aller Atemlosigkeit;
warum sollte ich aufgeben? 
Und steht es tausendmal in jeder Zeitung, 
dass Glaube, Kirche keine Zukunft habe, …
ich habe keinen Grund, es …  nachzureden. 
Und sind auch die verbürgerlichten, angepassten Christen 
die stärksten Argumente gegen mich, 
sie wiegen nicht auf gegen das eine: Jesus von Nazaret, 
der lebt und lebendig macht. 
Und sind die Verhältnisse so, dass man fragt: 
„Warum schweigt Gott zu all der Ungerechtigkeit, 
die doch zum Himmel schreit?“, 
dann leihe ich ihm meine Stimme, 
und man wird hören, dass Gott schreit. 

Aber eines brauche ich, und darum bitte ich den Herrn: 
eine Handvoll Menschen, die meine Sicht teilen, 
die immer wieder zusammenkommen, 
versammelt sind in deinem Namen 
und erfahren, dass du, Gott, mitten unter uns bist. 
Nur so werden wir der Versuchung zur Resignation widerstehen, 
nur so werden wir das Unmögliche möglich machen: 
Friede und Gerechtigkeit; 
nur so werden wir Menschen wie jener Jesus aus Nazaret: 
bis zum letzten da für den Menschen, 
bis zum letzten vertrauend, dass deine Liebe stärker ist als der Tod. 

(Diethard Zils, Trotz und Träume. Zwischen Politik und Theologie, hrsg. v. Frano Prcela, Leipzig 2015, 19)

 

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